'Listen, and you will hear all the houses that walked there before’.
Um die Ballroom Community verstehen zu können, müssen wir auf ihre Anfänge zurückschauen. Die Community wurde Ende der 60er Jahren, also kurz nach dem Civil Rights Movement, in Harlem New York gegründet. Die Kultur der Drag Balls lässt sich aber bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. 1869 veranstaltete die Hamilton Lodge in Harlem, New York ihren ersten queeren Maskenball. William Dorsey war ein ehemaliger Sklave und Amerikas erste selbsternannte Drag Queen. Dorsey Swann veranstaltete Drag Balls in Washington D.C und ließ sich auch durch Verhaftungen nicht davon abhalten. Er war unerschütterlich und hat als einer der ersten den Weg für die Ballroom geebnet. Damit zeigt sich, dass fast ein Jahrhundert vor den berühmten Stonewall Aufständen schon eine Form von Widerstand existierte und sich diese Menschen dem binären Lebensstil der Gesellschaft nicht beugten. In den1920er Jahren gab es weitere solcher Veranstaltungen, und gegen Ende des Jahrzehnts fanden Maskenbälle an auffälligen Orten wie dem Madison Square Garden und dem Astor Hotel statt, wo sie bis zu 6.000 Menschen anzogen. Bei vielen solcher Bälle, schritten Drag Queens durch den Saal, um sich dem Wettbewerb zu stellen. Anfang der 1960er Jahre begann die Drag-Ball-Kultur, sich entlang der Rassengrenzen aufzusplittern. Denn obwohl Bälle eine bemerkenswert gleichmäßige Mischung aus Schwarzen und weißen Teilnehmern aufwiesen und auch auf der Tanzfläche stark integriert waren, wurde von schwarzen Queens erwartet, dass sie ihre Gesichter “aufhellen“, wenn sie eine Chance auf den Sieg bei den Wettbewerben haben wollten. Aus diesem Grund starteten schwarze Queens ihre eigenen Balls.
'Houses & Balls’
1972 bildete sich das erste sogenannte „Haus“ der Ballroom Community unter Queen Crystal La Beija. Sie war eine der wenigen schwarzen Drag Queens und Transfrauen, die auf einem von Weißen organisierten Balls zur Ballkönigin gekürt wurde. Auch sie hatte die Voreingenommenheit solcher weißer Bälle satt und organisierte den annual House of La Beija Ball in Harlem, der Beginn der Ballroom Community, wie wir sie heute kennen und der Beginn des Häusersystem der Community. In Anlehnung an die glamourösen Modehäuser, deren Glamour und Stil sie bewunderten, begannen schwarze Drag Queens, Drag Houses oder Familien zu gründen, die unter der Leitung einer „Mutter“ und manchmal eines „Vaters“ fungierten. Sie kümmerten sich umeinander und bereiteten Bälle vor. Diese Häuser, die von Müttern und Vätern geleitet wurden, dienten als ausgewählte Familieneinheiten und Unterstützungssysteme für schwarze und lateinamerikanische LGBTQIA+-Jugendliche und Erwachsene. Die jungen Menschen, die damals queer waren, wurden von ihren biologischen Familien und häufig auch gesellschaftlich ausgeschlossen, verfolgt und hatten selten Chance auf ein normales Leben, wenn sie sich outeten. Viele gingen nach New York und fanden Zuflucht in den Ballroom Familien. Sie wohnten zusammen und unterstützen sich gegenseitig. Auf Balls konnten sie das sein, was sie im realen Leben nicht sein durften. Auf das erste Haus, folgten zahlreiche weitere Häuser mit Müttern und Vätern. Jedes Mitglied trug den Namen ihres Hauses, wie einen Nachnamen.
Seit 1972 tanzten und kämpften die Teilnehmer der unterschiedlichen Häuser auf Balls um Trophäen, bei denen für jede Kategorie mehrere Teilnehmer*innen in Kostüm und Figur über einen imaginären Laufsteg schritten. Am Ende jeder Runde fällte eine Gruppe Juror*innen ihr Urteil, das beispielsweise optimale Realitätsnähe belohnte. Damals war es das Ziel der Queens, wie weiße Frauen auszusehen, sagte Pepper La Beija, die später Mutter des House of La Beija wurde. Es war oftmals eine Art Bestandsprobe für das echte Leben. Die Balls fanden im Untergrund statt, meist mitten in der Nacht. Dort entfaltete sich die ganze Kreativität der Community. Die Quelle dieser war der Schmerz ihres Daseins beziehungsweise ihres Ausgeschlossen-Werdens und der Kampf um die Freiheit. Aus dem Leid, der Sehnsucht und aus Träumen heraus, schuf die Schwarze LGBTQIA+ Community eine eigene glamourös anmutende, künstlerische Welt, in der alle Geschlechter Identitäten Platz hatten. Hier haben sie Ausdrucks- und Kunstformen, Tanz und Musikstile erfunden, die gleichzeitig eine Form des Protests darstellten. Schwarze Trans Personen erschufen diese Kultur, weil sie von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen, diskriminiert, verfolgt und zum Teil ermordet wurden. Sie mussten sie erfinden, wenn sie irgendwo als sie selbst existieren wollten. Sie konnten dort laut sein, sich ausprobieren, während ihnen draußen jede Stimme verwehrt wurde.Auf diesen Balls wird mit und gegeneinander getanzt, gelaufen und präsentiert.
Auf den ersten Blick ist ein Ball leicht mit einer Fashion Show zu verwechseln. Das glamouröse Leben aus Mode Magazinen wird imitiert und die Performer*innen zelebrieren ihr Dasein, weil es draußen niemand tat. Kostüme werden selbstgenäht oder selbst zusammengestellt, Haare & Make Up, das ganze Erscheinungsbild muss bestmöglich zur entsprechenden Kategorie passen, um vor der Jury bestehen zu können. Kategorien gibt es zahlreiche. Die bekannteste heutzutage: „Voguing“. Voguing ist nach der Modezeitschrift Vogue benannt, da Performer*innen Posen der Models auf den Covern imitierten. Damit entstand ein neuer Tanzstil. Es ist ein Stil, den schon Madonna in den 90ern für sich entdeckt hatte. Sie verschaffte der Community kurzzeitigen Ruhm Ende des Jahrhunderts mit ihrem Hit „En Vogue“. Dank der vielen Wegbereiter*innen wurde Ballroom und Voguing in die ganze Welt hinausgetragen und erfährt heutzutage so viel Aufmerksamkeit wie noch nie. Die Welt und auch die Ballroom Community hat sich seit den 70er Jahren zwar geändert, jedoch ist die Notwendigkeit solcher safe spaces, wie der Ballroom Community groß. Sie ist wichtig, damit Menschen manchmal nur für ein paar Stunden sein können wer sie sind und/oder die Freiheit bekommen das herauszufinden. Inzwischen gibt es eine berühmte Netflix-Serie namens „Pose“, eine amerikanische Sendung „Legendary“, die die Kultur repräsentiert und zahlreiche Künstler*innen, die die Community für sich entdeckt haben. Beispielsweise Sam Smith, FKA Twigs oder auch Beyonce. Letztere produzierte ein komplettes Album inspiriert von der Musik und dem Tanz der Ballroom Kultur. Aktuell ist sie mit einigen Ballroom Tänzer*innen auf Tour.
Es gibt die Kultur inzwischen fast überall, auch in den Ländern, wo LGBTQIA+ Menschen politisch verfolgt werden. Gerade dort wird ein Ort wie dieser am Meisten gebraucht. In Brasilien, Israel, Polen, Portugal, Russland und sehr vielen anderen Ländern hat sich Ballroom über die letzten Jahrzehnte etabliert. So auch in Deutschland, dank Tänzerin und Trailblaizerin Georgina Saint Laurent. Die Düsseldorferin gründete das erste Haus in Deutschland, das „House of Melody“ im Jahre 2012, welches 2019 zum House of Saint Laurent Europe umbenannt wurde. Sie ist die Vorreiterin der Community in Deutschland. Ein „Haus“ bedeutet heutzutage nicht mehr, dass die Familien unter einem Dach wohnen, wie sie es früher taten. Heute agieren sie als „chosen family“. Sie unterstützen sich gegenseitig auch außerhalb des Catwalks. Georgina und andere Ballroom Mütter und Väter leisten hinter den Kulissen beeindruckende Arbeit. Sie helfen ihren „Kindern“ einen Platz in der Welt zu finden. Sie setzen sich dafür ein, Jobs für sie zu organisieren, eine Wohnung zu bezahlen, bei Identitätsfragen zu helfen, bei Problemen oder alltäglichen Herausforderungen. Wie in echten Familien, läuft auch hier nicht immer alles rund und nicht jede Mutter verhält sich gleich.
Doch das Haus ist ein Ort, der gerade jungen queere Menschen die Möglichkeit bietet, aufgefangen zu werden, sich frei zu entfalten, außerhalb des gesellschaftlichen Normkorsetts. Immernoch haben es Menschen, die sich zu der LGBTQIA+ Community zählen, gerade BPOC Trans Frauen und Männer schwer in Deutschland. Der Fall des Trans Mannes Mike beim CSD in Münster, ist kein Einzelfall. Jeden Tag werden in Deutschland und weltweit Trans Personen verbal und körperlich belästigt, brutal angegriffen und diskriminiert. Das Trans Murder Monitoring (TMM) hat weltweit zwischen dem 01. Oktober 2021 und dem 30. September 2022 327 Morde an trans* und genderdiversen Menschen gezählt. 95 % der getöteten trans* Menschen waren trans* Frauen. Die Menschen der LGBTQI+ Community, die geoutet leben, setzen sich jeden Tag Gefahren aus, wenn sie vor die Tür treten. Auch in Ländern, wie Deutschland, in denen sie vermeintlich akzeptierter sind. Deshalb sind Orte, wie die Ballroom Community wo wichtig, weil sie für Schutz und Sicherheit vor dieser Art Diskriminierung sorgen wollen. Es ist eine kunstvolle, bunte, modische, beeindruckende, diverse Welt, in der alle Körperformen, Orientierungen und Menschen zelebriert werden, aber wer auf einen Ball kommt, sollte sicherstellen über dessen Geschichte informiert zu sein und seinen Platz innerhalb der Community zu kennen. Ballroom ist eine Kultur, die aus Protest entstanden ist und diesen auch immer noch verkörpert. Dass es Ballroom im Oktober 2022 auch in Deutschland endlich auf eine größere Bühne, wie die der Volksbühne in Berlin, geschafft hat, zeigt, wie weit dieser Protest gekommen ist. Es ist ein großer Schritt für unsere Gesellschaft, aber auch ein längst fälliger. Vielleicht ist es ein Zeichen dafür, dass wir uns im Wandel befinden und unsere Normdefinition, wenn auch nur langsam, endlich erweitern.
Ich begleitete die Community seit 2018 regelmäßig zu Balls, sowohl national, als auch international. Ein großer Dank gilt allen Menschen, die mir ihr Vertrauen geschenkt haben und schenken. Vor allem der Wegbereiterin Georgina Saint Laurent, ohne die kein Foto jemals entstanden wäre.